Steuerberatung -

Vorsteuererstattung trotz Betrug

Gesellschaften, die ohne ihr Wissen in einen sog. umsatzsteuerrechtlichen Karussellbetrug verwickelt waren, haben Anspruch auf Erstattung der Vorsteuer.

Denn im Falle einer Lieferkette ist jeder Umsatz für sich als eigenständige wirtschaftliche Tätigkeit zu betrachten. Das Recht eines Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug wird dadurch, dass ein anderer Umsatz in der Kette mit einem Betrug behaftet ist, ohne dass der Steuerpflichtige hiervon Kenntnis hat oder haben kann, nicht berührt.

Sachverhalt:

Ein Händler, der in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union mehrwertsteuerpflichtig ist, verkauft Gegenstände an einen Händler, der in einem anderen Mitgliedstaat mehrwertsteuerpflichtig ist. Der zuletzt genannte Händler verschwindet, ohne die geschuldete Mehrwertsteuer an die Steuerbehörden zu entrichten, oder verwendet eine „entwendete“ Umsatzsteuer-Identifikationsnummer. Er verkauft die Gegenstände mit Preisnachlass an eine Gesellschaft in demselben Mitgliedstaat weiter, die sie ihrerseits an eine weitere Gesellschaft in diesem Mitgliedstaat verkauft, wobei sie die ihrem Abnehmer berechnete Mehrwertsteuer an die Steuerverwaltung abführt, nachdem sie hiervon die gezahlte Vorsteuer abgezogen hat. Sodann werden die Gegenstände, gegebenenfalls nach weiteren Umsätzen, in einen anderen Mitgliedstaat ausgeführt; die Ausfuhr ist von der Mehrwertsteuer befreit. Die ausführende Gesellschaft hat gleichwohl einen Anspruch auf Erstattung der für den Kauf der Gegenstände gezahlten Vorsteuer. Ist der Käufer die erste Gesellschaft, handelt es sich um einen „Karussellbetrug“. Dieses Verfahren kann mehrmals wiederholt werden.

Zum maßgebenden Zeitpunkt waren die drei Gesellschaften Optigen Ltd, Fulcrum Electronics Ltd und Bond House Systems Ltd Ausführer von Mikroprozessoren und wurden ohne ihr Wissen in diesen Betrug verwickelt. Im Jahr 2002 wurden ihre Anträge auf Erstattung der Mehrwertsteuer, die sie ihren Lieferanten gezahlt hatten, von den Commissioners of Customs & Excise in England abgelehnt, die der Auffassung waren, dass die von diesen Gesellschaften getätigten Käufe und Verkäufe weder wirtschaftliche Substanz gehabt hätten noch Lieferungen im Rahmen einer wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne des Mehrwertsteuergesetzes gewesen seien. Der High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division, der als Berufungsgericht mit der Sache befasst ist, ersuchte nun den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften um Auslegung der Artikel 2 Absatz 1, 4 Absätze 1 und 2 und 15 der Sechsten Richtlinie, mit der ein gemeinsames Mehrwertsteuersystem errichtet worden ist. Der High Court möchte wissen, ob es sich bei einem Umsatz, der ein Glied in einem Betrug der fraglichen Art darstellt, um eine „Lieferung von Gegenständen“, die ein „Steuerpflichtiger als solcher“ ausführt, und um eine „wirtschaftliche Tätigkeit“ im Sinne der Richtlinie handelt.


Entscheidung:

Der EUGH weist darauf hin, dass die Sechste Richtlinie der Mehrwertsteuer sowie den Schlüsselbegriffen „Steuerpflichtiger“, „Lieferung von Gegenständen“ und „wirtschaftliche Tätigkeiten“ einen sehr weiten Anwendungsbereich zuerkennt. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes haben alle diese Begriffe objektiven Charakter und sind unabhängig von Zweck und Ergebnis der betroffenen Umsätze anwendbar.

Es wäre unvereinbar mit der Richtlinie, die Absicht eines von dem betroffenen Steuerpflichtigen verschiedenen, an derselben Lieferkette beteiligten Händlers und/oder den möglicherweise betrügerischen Zweck – den dieser Steuerpflichtiger weder kannte noch kennen konnte – eines Umsatzes zu berücksichtigen, der Teil dieser Kette ist und der dem Umsatz, den der betreffende Steuerpflichtige getätigt hat, vorausgeht oder nachfolgt. In einer solchen Kette ist jeder Umsatz für sich zu betrachten, und vorausgehende oder nachfolgende Ereignisse ändern nichts am Charakter eines bestimmten Umsatzes in der Lieferkette. Umsätze wie die hier in Rede stehenden, die nicht selbst mit einem Mehrwertsteuerbetrug behaftet sind, sind folglich Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher ausführt, und eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Sechsten Richtlinie, wenn sie die objektiven Kriterien erfüllen, auf denen diese Begriffe beruhen.

Der Gerichtshof stellt daher fest: Das Recht eines Steuerpflichtigen, der solche Umsätze ausführt, auf Vorsteuerabzug wird auch nicht dadurch berührt, dass in der Lieferkette, zu der diese Umsätze gehören, ohne dass dieser Steuerpflichtige hiervon Kenntnis hat oder haben kann, ein anderer Umsatz, der dem vom Steuerpflichtigen getätigten Umsatz vorausgeht oder nachfolgt, mit einem Mehrwertsteuerbetrug behaftet ist. Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet.

Quelle: EUGH - Pressemitteilung vom 13.01.06