I.
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Automatenaufsteller. Für die Streitjahre 1990 bis 1992 reichte er beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) gemäß § 18 Abs. 3 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) Umsatzsteuererklärungen ein, die das FA erklärungsgemäß abrechnete. Nach einer Außenprüfung, die zu keiner Änderung führte, übersandte das FA dem Kläger eine Mitteilung gemäß § 202 der Abgabenordnung (AO 1977) und hob mit Bescheid vom 15. Dezember 1993 für die Veranlagungszeiträume 1990 bis 1992 den Vorbehalt der Nachprüfung auf.
Nachdem der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (
Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung materiellen Rechts.
1. Die Umsatzsteuer-Bescheide seien nichtig. Nach § 10 UStG sei als Entgelt alles (abzüglich der Umsatzsteuer) anzusehen, was der Leistungsempfänger aufwende, um die Leistung zu erhalten; demgegenüber sei nach Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a, Abs. 3 Buchst. b der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) in die Besteuerungsgrundlage alles einzubeziehen, was den Wert der Gegenleistung bilde, die der Lieferer oder Dienstleistende für diese Umsätze vom Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhalte oder erhalten solle. Weiter sei in Abs. 3 festgelegt, daß in die Besteuerungsgrundlage nicht die Rabatte und Rückvergütungen auf den Preis einzubeziehen seien. die dem Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger eingeräumt würden und die er zu dem Zeitpunkt erhalte, zu dem der Umsatz bewirkt werde. Das offenkundige Auseinanderfallen von deutscher Umsetzungsnorm und EG-Richtlinie erfülle durchaus die Voraussetzung des § 125 AO 1977.
2. Selbst wenn die Bescheide nicht nichtig wären, seien sie aber zu ändern. In Betracht komme § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977. Zwar qualifiziere der BFH Urteile nicht als rückwirkende Ereignisse. Diese Auffassung könne jedoch nicht ohne weiteres auf ein Urteil des
3. Darüber hinaus rechtfertige sich im Streitfall die Durchbrechung der Bestandskraft der Steuerbescheide durch die sog. Emmott'sche Fristenhemmung (
Es sei fraglich, ob Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a Richtlinie 77/388/EWG überhaupt in das deutsche Recht umgesetzt worden sei. Der Wortlaut des § 10 Abs. 1 UStG sei gegenüber der Vorgängervorschrift (§ 10 Abs. 1 UStG 1973) nicht geändert worden. Auch sei fraglich, ob die Umsetzung einer EG-Richtlinie durch Verwaltungsvorschriften zulässig sei. Selbst wenn das der Fall wäre, seien die Verwaltungsvorschriften unverändert geblieben. Die fehlerhafte Umsetzung habe zur Folge, daß sich die Finanzverwaltung nicht auf die eingetretene Bestandskraft von Steuerfestsetzungen berufen könne. Die Grundsätze aus dem Emmott-Urteil seien entsprechend anzuwenden. Die Anlaufhemmung erstrecke sich nicht nur auf Klagefristen, sondern auch auf Rechtsbehelfsfristen sowie Festsetzungsverjährungsfristen. steuerrechtliche den Fällen fehlerhafter Umsetzung von EG-Richtlinien sei der materiellen Rechtsrichtigkeit der Vorrang gegenüber der formellen Rechtssicherheit einzuräumen.
In dem Urteil vom 6. Juli 1995 C-62/93 "BP Soupergaz" (Internationales Steuerrecht - IStR 1995, 385) nehme der
Die Rechtsbehelfsfrist beginne erst mit der Veröffentlichung des am 26. Juli 1994 veröffentlichten Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 5. Juli 1994 (BStBl I 1994, 465) zu laufen und ende --mangels Rechtsbehelfsbelehrung-- erst binnen Jahresfrist am 26. Juli 1995, so daß die angefochtenen Bescheide antragsgemäß zu ändern seien. Im Hinblick auf dieses Schreiben werde vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.
Da die Entscheidung, inwieweit die Grundsätze des Emmott-Urteils auch auf Fallkonstellationen wie die des Streitfalls anzuwenden seien, letztendlich eine Entscheidung über die Auslegung des EG-Rechts sei, werde angeregt, die Sache dem
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die in den angefochtenen Steuerbescheiden festgesetzte Umsatzsteuer um insgesamt ... DM herabzusetzen.
Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
und trägt im wesentlichen vor:
1. Ein schwerwiegender Fehler i.S. des § 125 AO 1977 sei nicht gegeben; auch könnten die Bescheide nicht nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 geändert werden. Bereits in dem Urteil vom 10. Juli 1980 Rs. 826/79 (EuGHE 1980, 2559, 2573) habe der
2. Die Entscheidung in der Sache Emmott enthalte keinen Hin weis darauf, daß neben Klagefristen auch Rechtsbehelfsfristen im Verwaltungsverfahren gehemmt sein sollten. Weiterhin sei das die Emmott-Entscheidung tragende Argument der fehlenden Möglichkeit des Bürgers, von seinen Rechten Kenntnis zu erlangen, im vorliegenden Fall nicht gegeben. Die Richtlinie 77/388/EWG sei dem Kläger jederzeit zugänglich gewesen. Da es ihm jederzeit möglich gewesen sei, sich unmittelbar auf die ihn begünstigende Richtlinie 77/388/EWG zu berufen, bedürfe er zur Durchsetzung seines Rechts keiner Emmott'schen Fristenhemmung. Letztlich entscheidend dürfte aber sein, daß der deutsche Gesetzgeber bezüglich der Umsetzung der Richtlinie 77/388/EWG --anders als im Emmott-Fall-- seiner Umsetzungspflicht nachgekommen sei. Da der
3. Die Leitsätze 3 und 4 der Entscheidung in IStR 1995, 385 --BP Soupergaz-- dürften nicht mit dem Vorbringen des Klägers in Einklang zu bringen sein. Für die Maßgeblichkeit der innerstaatlichen Verfahrensordnung könne gleichermaßen auf den Leitsatz 4 der Entscheidung Bezug genommen werden.
II.
Die Revision ist unbegründet (§
1. Die Bescheide vom 15. Dezember 1993 sind nicht nichtig. Gemäß § 125 Abs. 1 AO 1977 ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Nach § 125 Abs. 2 AO 1977 ist ein Verwaltungsakt z.B. nichtig, der die erlassende Finanzbehörde nicht erkennen läßt, den aus tatsächlichen Gründen niemand befolgen kann, der die Begehung einer rechtswidrigen Tat verlangt oder der gegen die guten Sitten verstößt. Im Streitfall sind weder diese besonderen Tatbestände des Abs. 2 noch ist der allgemeine Tatbestand des Abs. 1 erfüllt. Der Bescheid ist zwar rechtswidrig; er entsprach aber zum Zeitpunkt seines Ergehens der nationalen Rechtsprechung (BFH-Urteil vom 29. Januar 1987 V R 53/76, BFHE 149, 295, BStBl II 1987, 516). Ein solcher Bescheid, dessen Rechtswidrigkeit allein auf der unterschiedlichen Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist nicht nichtig.
2. Die Bescheide vom 15. Dezember 1993 sind nicht zu ändern. Die Voraussetzungen einer Änderungsnorm, insbesondere die des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Solch ein Ereignis ist z.B. der Eintritt einer auflösenden Bedingung oder die Anfechtung eines Rechtsgeschäfts. Kein rückwirkendes Ereignis ist hingegen die Änderung der Rechtsprechung (so auch Tipke/Kruse, Abgabenordnung -
3. Schließlich kann dem Kläger im Hinblick auf das
a) Nach dieser Entscheidung ist es den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaates so lange untersagt, sich im Rahmen einer Klage, die ein Bürger vor den nationalen Gerichten zum Schutz der Rechte erhebt, die ihm durch Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit unmittelbar verliehen sind, auf nationale Verfahrensvorschriften über Klagefristen zu berufen, als dieser Mitgliedstaat die Richtlinie nicht ordnungsgemäß in seine interne Rechtsordnung umgesetzt hat. Die Anspruchstellerin war in einem sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren zunächst von den irischen Verwaltungsbehörden damit hingehalten worden, die Behörden könnten ihrem Anspruch vor einer Änderung der irischen Gesetze nicht stattgeben, so daß sie sich gedulden müsse. Nach der Anpassung der irischen Gesetze an die europarechtlichen Vorgaben berief sich die Verwaltung dann darauf, daß der Anspruch verjährt sei und nicht mehr gerichtlich geltend gemacht werden könne. Die Entscheidung des
Ergänzt wird diese Entscheidung durch das Urteil in IStR 1995, 385 --BP Soupergaz--. Danach kann ein Steuerpflichtiger mit Rückwirkung auf den Tag des Inkrafttretens der im Widerspruch zur Richtlinie 77/388/EWG stehenden nationalen Rechtsvorschriften die Erstattung der ohne Rechtsgrund gezahlten Mehrwertsteuer nach den in der innerstaatlichen Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats festgelegten Verfahrensmodalitäten verlangen, sofern diese Modalitäten nicht ungünstiger sind als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen, und nicht so ausgestaltet sind, daß sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen. Von den gleichen Grundsätzen geht der
b) Im Streitfall sind die Voraussetzungen, an die der
Der deutsche Gesetzgeber hat Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 Buchst. b Richtlinie 77/388/EWG in § 10 Abs. 1 UStG 1980 umgesetzt. Entgegen der Auffassung des Klägers ist unbeachtlich, daß eine vergleichbare Regelung bereits im UStG 1973 enthalten war. Entscheidend ist allein die objektive Übereinstimmung von Richtlinie und nationalem Gesetz. Mit dem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar war nach dem
Dem Kläger war der Weg zum Gericht nicht versperrt; er hatte die Möglichkeit, die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des § 10 Abs. 1 UStG 1980/1991 vor den Verwaltungsbehörden und den Gerichten nach den nationalen Verfahrensbestimmungen geltend zu machen.
4. Eine Vorlage an den
In Übereinstimmung mit Äußerungen in der Literatur (z.B. Reiß, StuW 1994, 323, 330) unterscheidet der BFH zwischen der Nichtumsetzung einer Steuerrichtlinie und einer lediglich richtlinienwidrigen Auslegung und Anwendung umgesetzter Richtlinien durch Behörden und Gerichte. Im letzteren Fall komme die sog. "Emmott'sche Fristenhemmung" nicht in Betracht; eine mögliche Erstattung zu Unrecht entrichteter Steuern sei vielmehr nach den nationalen Verfahrensbestimmungen zu beurteilen, zu denen auch die Regeln über die Änderung von Steuerbescheiden und die Regeln über Bestandskraft gehörten.