EuGH-Vorlage: Ist medizinische Telefonberatung umsatzsteuerfrei?

Medizinische Leistungen, die z.B. über das Internet oder am Telefon erbracht werden, sind auf dem Vormarsch. Hier kann sich jedoch die Frage stellen, ob im Einzelfall eine umsatzsteuerfreie Heilbehandlung vorliegt.

Der BFH hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die Leistungen eines "Gesundheitstelefons" als steuerfreie Heilbehandlungen im Sinne des Gemeinschaftsrechts anzusehen sind.

Rechtlicher Rahmen: Steuerfreiheit für Heilbehandlungen

  • Unter die Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 14 Buchst. a Satz 1 UStG fallen Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin. Diese müssen im Rahmen einer Tätigkeit als Arzt, Zahnarzt, Heilpraktiker, Physiotherapeut, Hebamme oder einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit durchgeführt werden.
  • Die Steuerbefreiung im Unionsrecht nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL entspricht im Wortlaut weitgehend der deutschen Regelung. Nach der EuGH-Rechtsprechung erfasst der unionsrechtliche Begriff der Heilbehandlungen Leistungen, die zur Diagnose, Behandlung und, so weit wie möglich, Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen dienen (z.B. EuGH, Urt. v. 08.06.2006 - Rs. C-106/05, L.u.P., Rdnr. 27; v. 10.06.2010 - Rs. C-262/08, CopyGene).

Der Urteilsfall: BFH vom 18.09.2018- XI R 19/15

Im Streitfall betrieb eine GmbH im Auftrag gesetzlicher Krankenkassen ein sog. Gesundheitstelefon zur medizinischen Beratung von Versicherten. Darüber hinaus führte die GmbH Patientenbegleitprogramme durch.

Dabei erhielten bestimmte Versicherte auf der Basis von Abrechnungsdaten und Krankheitsbildern über eine medizinische Hotline situationsbezogene Informationen zu ihrem Krankenbild. Gegenstand der Beratungen waren z.B. Hinweise, welcher Arzt bei bestimmten Symptomen aufzusuchen ist, etwa bei Krampfanfällen oder psychischen Erkrankungen, sowie allgemeine Informationen zu Symptomen, etwa im Fall von Herzrhythmusstörungen.

Bei möglichen Behandlungsfehlern wurden die Anrufer z.B. an die Schlichtungsstelle bei der Landesärztekammer verwiesen. Im Ergebnis wurde durch die Beratung versucht, die Weichen für die richtige medizinische Behandlung zu stellen und den Anrufern Ängste zu nehmen.

Die abgeschlossenen Fälle wurden dem ärztlichen Leiter stichprobenartig eingespielt und insbesondere auf die medizinisch fachliche Nachvollziehbarkeit der dokumentierten Angaben überprüft. Die Beratungsleistungen wurden durch Krankenschwestern und medizinische Fachangestellte erbracht, die größtenteils auch als Gesundheitscoach ausgebildet waren.

In mehr als 1/3 der Fälle wurde auch ein Arzt hinzugezogen, der die Beratung übernahm bzw. bei Rückfragen Anweisungen erteilte oder eine zweite Meinung äußerte. Die GmbH erklärte ihre Umsätze aus diesen Leistungen als steuerfreie Heilbehandlungen.

Das Finanzamt ging jedoch von steuerpflichtigen Leistungen aus. Auch das angerufene FG beurteilte die Leistungen der Klägerin nicht als steuerfreie Leistungen. Dagegen legte die GmbH Revision ein, weil ihre vorbeugenden Beratungsleistungen einen unmittelbaren Krankheitsbezug hätten und dazu dienten, spätere höhere Kosten durch ärztliche Heilbehandlungen zu vermeiden.

Der BFH legte dem EuGH den Fall nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorabentscheidung vor.

Heilbehandlungen im Sinne des EU-Rechts?

Gegenstand der ersten Vorlagefrage ist, ob durch die von der Klägerin im Auftrag der gesetzlichen Krankenkassen erbrachte Leistung der Anwendungsbereich des Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL eröffnet ist.

Der Begriff "Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin" ist nach der Rechtsprechung des EuGH ein autonomer unionsrechtlicher Begriff, den die nationalen Gerichte der EU-Mitgliedstaaten richtlinienkonform auslegen müssen (z.B. im Fall des § 4 Nr. 14 Buchst. a Satz 1 UStG).

 

Nach der Rechtsprechung des EuGH fallen unter Heilbehandlungen auch vorbeugende Maßnahmen, die dem Schutz einschließlich der Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der Gesundheit dienen (EuGH, Urt. v. 13.03.2014 - Rs. C-366/12, Klinikum Dortmund, Rdnr. 30).

Eine weitere Voraussetzung einer Heilbehandlung ist jedoch, dass ihr ein therapeutischer Zweck zugrunde liegt. Diese Voraussetzung ist jedoch nicht besonders eng auszulegen. Maßstab der Auslegung ist die Zweckbestimmung der Steuerbefreiung, nämlich die Kosten der ärztlichen Heilbehandlung zu senken (vgl. z.B. EuGH, Urt. v. 11.01.2001 - Rs. C-76/99, Kommission/Frankreich, Rdnr. 23).

 

Hinweis: Entsprechend sind von der Steuerbefreiung auch nur Bestandteile medizinischer Leistungen erfasst, die im Gesamtkontext einer Therapie stehen. Bei Leistungen von Physiotherapeuten und Angehörigen ähnlicher Heilberufe unterfallen Leistungen ohne vorherige ärztliche Anordnung und Diagnose üblicherweise nicht der Steuerbefreiung.

Die genannten Voraussetzungen abwägend, kommt der BFH zu dem Ergebnis, dass die fraglichen Leistungen der Klägerin, zumindest bei einem engen Verständnis des Heilbehandlungsbegriffs, nicht unter die Steuerbefreiung fallen.

Weder steht fest, ob sich ärztliche Heilbehandlungen an die Telefonberatungen anschließen noch ob sie als eine Art der "Erstberatung" Bestandteil einer weiteren komplexen Heilbehandlung werden. Teilweise werden die Anrufenden auch nicht auf der Grundlage vorheriger medizinischer Feststellungen oder Anordnungen informiert; in allen Fällen erfolgt die Information ohne persönlichen Kontakt zwischen Versicherten und Mitarbeitern der Klägerin am Telefon.

Nach Ansicht des BFH muss in Bezug auf die Telefonberatungen danach differenziert werden, ob sie im Kontext einer konkreten ärztlichen Beratung oder zumindest im Vorfeld einer solchen stehen oder ob es sich insoweit um die Befriedigung allgemeiner Lebensbedürfnisse der Anrufenden handelt.

Bei einem konkreten medizinischen Anliegen des Anrufenden könnte die Steuerbefreiung also in Betracht kommen.

Notwendige Qualifikation der Telefonbetreuer

Im Rahmen der zweiten Vorlagefrage möchte der BFH wissen, ob - falls die erste Vorlagefrage zu bejahen ist - im Rahmen der erbrachten Leistungen für die Patientenbegleitprogramme aufgrund der telefonischen Betreuung eine Zusatzqualifikation der Ausführenden erforderlich ist.

Die Leistungen im Rahmen der Patientenbegleitprogramme unterfallen nach Ansicht des BFH der Steuerbefreiung. Diese sind als Patientenschulungen im Rahmen der ergänzenden Leistungen zur Rehabilitation zu qualifizieren. Da sie nur gegenüber Patienten mit diagnostizierter chronischer Krankheit erbracht werden, dienen die Leistungen einem therapeutischen Zweck.

Nicht jeder Aspekt einer therapeutischen Behandlung muss von medizinischem Personal durchgeführt werden. Was als ärztlicher oder arztähnlicher Beruf gilt, unterliegt gem. Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStStystRL den Bestimmungen der Mitgliedstaaten.

Da die telefonische Betreuung im Rahmen der Patientenbegleitprogramme überwiegend von Krankenschwestern und medizinischen Fachangestellten vorgenommen wurde, stellt sich die Frage, welche Anforderungen hinsichtlich der Ausbildung zu stellen sind.

Nach Ansicht des BFH unterscheiden sich die Leistungen in der Telemedizin insbesondere dadurch, dass kein persönlicher Kontakt zwischen dem Patienten und dem Behandelnden vorliegt. In Deutschland gibt es hinsichtlich der fachlichen Anforderungen bei Leistungen der Telemedizin keine Regelungen.

Lediglich für den Bereich der Patientenschulungen gibt es von den Verbänden der Krankenkassen nichtbindende Empfehlungen.

Fraglich ist, ob die für herkömmliche Heilbehandlungen von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten Qualifikationsmerkmale eines ärztlichen und arztähnlichen Berufs i.S.d. Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStStystRL auch für solche Heilbehandlungen gelten, die gänzlich ohne persönlichen Kontakt (z.B. telefonisch oder über das Internet) erbracht werden, oder ob es - z.B. für Leistungen im Bereich der Telemedizin - insofern zusätzlicher Anforderungen bedarf.

Diesbezüglich erscheint es laut BFH relevant, dass das Ermessen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Regelung der Berufsqualifikation dadurch begrenzt wird, dass nicht alle Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin von der Mehrwertsteuer befreit werden sollen, sondern nur diejenigen, die unter Berücksichtigung der beruflichen Ausbildung der Behandelnden eine ausreichende Qualität aufweisen.

Fazit

Mit Spannung bleibt abzuwarten, ob der EuGH die Auffassung des BFH, nach der die im Rahmen des Gesundheitstelefons erbrachten Leistungen bei einem engen Verständnis der Befreiungsvorschriften nicht in deren Anwendungsbereich fallen, teilen wird.

Die Antwort des EuGH auf die Vorlagefragen dürfte auch eine rechtliche Weichenstellung für die Erbringung von weiteren Formen medizinischer Leistungen mittels Kommunikationstechnik sein: Neben der telefonischen medizinischen Beratung nimmt auch der Bereich der Erbringung medizinischer Leistungen über das Internet zu.

Dieser Trend dürfte sich aufgrund des Ärztemangels noch verstärken. Insbesondere zu erwähnen sind etwa ärztliche Konsultationen per Webcam, die einen direkten persönlichen Kontakt ermöglichen.

BFH vom 18.09.2018- XI R 19/15

Thorsten Wagemann, Steuerberater, Dipl.-Wirtschaftsjurist 

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