- Der Umstand, dass der vom Finanzamt beauftragte Postdienstleister an der Anschrift des Bekanntgabeadressaten an einem Werktag innerhalb der Dreitagesfrist keine Zustellungen vornimmt, steht der Zugangsvermutung in § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung nicht entgegen.
- Dies gilt auch dann, wenn an zwei aufeinanderfolgenden Tagen keine Postzustellung erfolgt, weil der zustellfreie Tag an einen Sonntag grenzt.
BFH, Urt. v. 20.02.2025 - VI R 18/22
Kurzfassung
Hintergrund
Möchte ein Steuerpflichtiger bzw. sein steuerlicher Vertreter einen Einspruch gegen einen von der Finanzverwaltung erlassenen Einkommensteuerbescheid oder einen vergleichbaren Verwaltungsakt einlegen, müssen gewisse Formvorschriften eingehalten werden, damit die Einspruchseinlegung als statthaft angesehen wird. Die Einspruchsfrist beträgt dabei im Standardfall einen Monat nach der Bekanntgabe des Bescheids.
Seit dem 01.01.2025 gilt ein Verwaltungsakt, der durch die Post im Inland übermittelt wird, am vierten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekanntgegeben (sog. Zustellungs- bzw. Bekanntgabefiktion). Diese Änderung basierte auf einer Modernisierung des Postrechtsmodernisierungsgesetzes und den darin enthaltenen Laufzeitvorgaben für die Zustellung von Briefen.
Hinweis: Als Post i.S.d. § 122 AO ist nicht nur die Deutsche Post AG, sondern auch ein (sonstiger) privater Postdienstleister anzusehen (vgl. BFH, Urt. v. 14.06.2018 - III R 27/17). Diese Information ist wichtig, da die Finanzämter aufgrund rechtlicher Verpflichtungen im Standardfall mit dem günstigsten Postdienstleister zusammenarbeiten (müssen).
Die Viertagesfrist gilt dabei auch für elektronisch bereitgestellte Verwaltungsakte. Für Bescheide, die vor dem 01.01.2025 aufgegeben wurden, betrug die Zustellungsfiktion statt vier nur drei Tage. Irrelevant ist dabei, ob der Verwaltungsakt dem Steuerpflichtigen tatsächlich früher zuging. Fällt dabei der Tag der Bekanntgabe bzw. das Ende der Einspruchsfrist auf einen Samstag, Sonntag oder Feiertag, dann verschiebt sich das Ende der Einspruchsfrist auf den nächsten Werktag (§ 108 Absatz 3 AO).
Hinweis: Geht ein Einspruch verfristet bei der zuständigen Behörde ein, sollte immer die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand i.S.d. § 110 AO überprüft werden. Zudem sollte bereits jetzt der § 122a AO beachtet werden. Durch eine Rechtsänderung werden ab 2026 Steuerbescheide im Standardfall nur noch auf dem elektronischen und nicht mehr auf dem postalischen Weg bereitgestellt.
Urteilsfall
In dem Streitfall ging es um einen verfristet eingelegten Einspruch und die Frage, ob die Bekanntgabefiktion auch in den Fällen gilt, in denen ein Postdienstleister nachweislich Briefe nur an fünf statt an sechs Tagen die Woche zustellt. Die Klägerin und Revisionsbeklagte erzielte im Streitjahr 2017 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Dementsprechend galt im Streitfall noch die sog. Drei-Tages-Fiktion bezüglich der Bekanntgabe des Einkommensteuerbescheids. Ihre Einkommensteuererklärung erstellte die Klägerin dabei selbst.
Am Freitag, dem 15.06.2018, erließ das zuständige Finanzamt den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr. Der gegen die Klägerin richtigerweise als Inhalts- und Bekanntgabeadressatin gerichtete Einkommensteuerbescheid wurde dabei noch am selben Tag dem zuständigen Postdienstleistungsunternehmen übergeben. Nachweislich stellte dieses Postdienstleistungsunternehmen jedoch in dem Wohnbereich der Klägerin nur von Montag bis Freitag die vorhandene Post zu.
Die Klägerin war vom 02.05.2018 bis Montag, den 18.06.2018 nicht zu Hause, da sie außerhalb ihrer Wohnung beruflich tätig wurde. In der Zeit der Abwesenheit kümmerten sich eine Freundin und die Mutter der Klägerin um das Leeren des Briefkastens. Am Morgen des 19.06.2018 (Dienstag) kehrte die Klägerin in ihre Wohnung zurück und hielt an diesem Tag den Einkommensteuerbescheid unstrittig in ihren Händen, um den Verwaltungsakt direkt per Telefax an ihre Prozessbevollmächtigte zu übersenden.
Hinweis: Die Übermittlung per Telefax an die Bevollmächtigte am 19.06.2018 liegt dabei vorerst unstrittig in der Einspruchsfrist. Da der angefochtene Bescheid am 15.06.2018 im Wege des Zentralversands zur Post gegeben wurde, gilt er nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO als am 18.06.2018 (Montag) bekanntgegeben. Somit endet die Einspruchsfrist erst mit Ablauf des 18.07.2018 (§ 108 Abs. 1 AO i.V.m. § 188 Abs. 2 erste Alternative BGB).
Die Prozessbevollmächtigte legte anschließend am 19.07.2018 namens der Klägerin gegen den Einkommensteuerbescheid vom 15.06.2018 Einspruch beim zuständigen Finanzamt ein. Das zuständige Finanzamt verwarf den Einspruch wiederum als unzulässig aufgrund des Zugangs außerhalb der regulären Einspruchsfrist. Gegen dieses Vorgehen wehrte sich jedoch die Klägerin vor dem zuständigen FG und bekam vorerst recht.
Das FG begründete das Vorgehen damit, dass die in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO geregelte Zugangsvermutung im Streitfall aus dem Grund keine Anwendung findet, weil an die Wohnadresse der Klägerin innerhalb der Dreitagesfrist regelmäßig nicht an allen Werktagen Post durch das vom Finanzamt beauftragte Postdienstleistungsunternehmen ausgeliefert worden sei. Zudem könne die Finanzbehörde keinen früheren Zugang nachweisen, so die zuständigen Richter. Aus diesem Grund sei der Einkommensteuerbescheid der Klägerin nach den Aussagen des FG erst am 19.06.2018 bekanntgegeben worden, und folglich ging der Einspruch der Klägerin fristgerecht bei der richtigen Behörde ein.
Das zuständige Finanzamt legte Revision ein und rügte die Verletzung materiellen Rechts. Die Klägerin beantragte hingegen, die eingelegte Revision zurückzuweisen.
Entscheidung
Nach Aussage des BFH ist die Revision der Finanzverwaltung als begründet anzusehen. Dies führt zur Aufhebung der Vorentscheidung (des FG) und zur Abweisung der Klage.
In der Urteilsbegründung gingen die Richter dabei im Wesentlichen auf die Bekanntgabe bzw. die Zustellung des Verwaltungsakts und die Nachweismöglichkeiten des Zugangs für die Steuerpflichtige, aber auch die Finanzverwaltung, ein.
Zuerst bestätigten die Richter, dass es unerheblich ist, ob ein Einkommensteuerbescheid mit der deutschen Post AG oder einem anderen Dienstleister versandt wird. Dieses ändert nichts an der Zugangsfiktion, es sei denn, der Bescheid ist gar nicht oder nachweislich verspätet zugegangen. Eine spätere Bekanntgabe liegt zudem in den Fällen vor, in denen der Verwaltungsakt an einen falschen Empfänger versendet wird. Liegen ernsthafte Bedenken eines verspäteten Zugangs vor, dann muss die Finanzverwaltung den Zeitpunkt des Zugangs nachweisen, so die Richter.
Wird hingegen nicht der Zugang innerhalb der Bekanntgabefiktion angegriffen, sondern werden Aspekte vorgetragen, die das System der Bekanntgabefiktion anfechten (wie im Streitfall dadurch, dass das Postunternehmen die Post nur an fünf Tagen verteilt), dann muss der Steuerpflichtige dieses Vorgehen begründen, so die Richter des BFH. Dabei muss der Steuerpflichtige (z.B.) Tatsachen vortragen, die den Schluss zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf dazu beigetragen hätte, dass der Einspruch fristgerecht eingelegt worden wäre.
Nach Ansicht der Richter reiche in dem Streitfall die Begründung nicht aus, der Einspruch sei auf der Grundlage verfristet eingelegt worden, dass das Postunternehmen nur von Montag bis Freitag die Post in der Wohngegend der Klägerin ausgetragen hatte.
Nachweislich (und durch das zuständige Finanzamt bewiesen) wurde der Bescheid vom 15.06.2018 noch am selben Tag dem Postunternehmen übergeben. Dies wurde im Klageverfahren auch nicht von der Klägerin bestritten bzw. angegriffen. Dadurch finden die allgemeinen Regelungen des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO Anwendung. Anders wäre es hingegen, wenn die Übergabe zur Post von der Finanzverwaltung nicht nachgewiesen werden könnte (vgl. BFH, Urt. v. 09.12.2009 - II R 52/07). Dieser Umstand lag im Streitfall jedoch nicht vor.
Zudem wurde in der Urteilsbegründung kurz darauf eingegangen, ob sich an der Bekanntgabefiktion bzw. dem Beginn der Rechtsbehelfsfrist aus dem Grund etwas ändert, dass die Steuerpflichtige den Bescheid erst am 19.06.2018, unmittelbar nach ihrer Rückkehr, vorgefunden hatte. Das vorgetragene Argument der Steuerpflichtigen entkräften die Richter des BFH jedoch durch den Nachweis, dass zwar an Samstagen keine, an Montagen jedoch durchaus Post von dem beauftragten Postunternehmen zugestellt wurde. Aufgrund dessen ist eine Zustellung des streitigen Steuerbescheids am letzten Tag der Dreitagesfrist (hier Montag, der 18.06.2018) als durchaus realistisch anzusehen und kann auch nicht entkräftigt werden. Zum einen war die Klägerin erst am 19.06.2018 wieder zu Hause, und zum anderen konnte auch die mit der Leerung des Briefkastens beauftragte Freundin bzw. die Mutter der Steuerpflichtigen nicht nachweisen, dass der Einkommensteuerbescheid nach der letzten "Postrunde" nicht in den Briefkasten eingeworfen wurde. Dies hatte die Steuerpflichtige jedoch auch nicht behauptet bzw. angegriffen und auch das FG hatte keinen Zugang nach dem 18.06.2018 feststellen können.
Aus diesem Grund müsse auch die Vorentscheidung des FG aufgehoben werden, denn der Zugangsvermutung steht nach den Aussagen des BFH ausdrücklich nicht entgegen, dass das beauftragte Postunternehmen im Streitfall an dem innerhalb der Dreitagesfrist liegenden Samstag (16.06.2018) keine Zustellungen in dem Wohnviertel der Klägerin vorgenommen hat. Ohne Auswirkung ist es zudem, dass nur an fünf statt an sechs Tagen die Post in dem Bezirk der Klägerin ausgetragen wird, da ein Tag ohne Zustellung immer der Sonntag war, an dem generell davon ausgegangen wird, dass dann keine Post zugestellt wird (vgl. von Beckerath in: Gosch, FGO § 47, Rdnr. 82; anderer Ansicht BeckOK AO/Füssenich in: 31. Ed. 01.01.2025, AO § 122, Rdnr. 182).
Zudem ist das FG zu Unrecht davon ausgegangen, dass die in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO geregelte Zugangsvermutung im Streitfall nicht anzuwenden ist, da die Finanzverwaltung einen tatsächlichen Zugang nicht nachweisen könne.
Als Ergebnis kann also festgehalten werden, dass sich die Bekanntgabefiktion nicht verschoben bzw. verlängert hat und der Einspruch somit um einen Tag zu spät bei der zuständigen Behörde eingegangen ist.
Fazit
Der BFH stellte klar, dass sich die Bekanntgabefiktion in den Fällen nicht verlängert, in denen ein Postunternehmen nicht an jedem Werktag die Post austrägt und dadurch ernsthafte Zweifel entstehen, ob ein Bescheid tatsächlich innerhalb von drei bzw. jetzt vier Tagen nach der Aufgabe zur Post zugegangen ist.
Betrachtet man den Streitfall jedoch einmal aus einer anderen Perspektive, so kann sehr schnell festgestellt werden, dass das Problem nicht bei dem Postunternehmen, sondern bei der Arbeitsweise der Prozessbevollmächtigten gesucht werden sollte. Denn diese hatte es ohne große zeitliche Nöte versäumt, fristgerecht Einspruch einzulegen. Auch nach dem Erhalt des Einkommensteuerbescheids ihrer Mandantin wäre noch fast ein Monat an Zeit vorhanden gewesen. Aus diesem Grund kommt auch keine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand i.S.d. § 110 AO in Frage.
In gleichgelagerten Fällen empfiehlt es sich also zwingend, einen Einspruch mit dem Hinweis einzulegen, dass die Einspruchsbegründung zeitnah nachgereicht wird.
Diplom-Finanzwirt Jan-Philipp Muche, Hameln