Die Anwendung geschlechterdifferenzierender Sterbetafeln bei der Bewertung lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer im Rahmen von § 14 Abs. 1 des Bewertungsgesetzes verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes.
BFH, Urt. v. 20.11.2024 - II R 38/22, II R 41/22, II R 42/22
Kurzfassung
Allgemeines zur Abzinsung lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen
Nach § 14 Abs. 1 BewG sind lebenslängliche Nutzungen und Leistungen, z.B. Leibrenten und Nießbrauchsrechte, nach der Lebenserwartung des Begünstigten abzuzinsen.
Das BMF veröffentlicht hierzu Vervielfältiger, die wiederum auf den vom Statistischen Bundesamt im Jahrestakt herausgegebenen Sterbetafeln basieren. Die Sterbetafel gibt dabei die durchschnittliche Rest-Lebenserwartung einer Person in Abhängigkeit von ihrem aktuellen Alter wieder.
Der sich aus der Tabelle ergebende Vervielfältiger ist mit dem Jahreswert der Nutzung oder Leistung zu multiplizieren. Bei einer Leibrente entspricht der Jahreswert der monatlichen Rentenzahlung, multipliziert mit 12.
Entsprechendes gilt für Nießbrauchs- und andere Nutzungsrechte. Hier ist die marktübliche Miete bzw. das marktübliche Entgelt für eine entsprechende Überlassung heranzuziehen und jeweils auf zwölf Monate hochzurechnen.
Nach der am 09.12.2024 für Bewertungsstichtage ab 01.01.2025 veröffentlichten amtlichen Tabelle des BMF (Gz. IV D 4 - S 3104/19/10001 :010) ergeben sich beispielsweise folgende Werte:
Eine Person im Alter von 60 Jahren erhält von ihrem Sohn eine Leibrente in Höhe von 1.000 € pro Monat, entsprechend 12.000 € pro Jahr. Ist die begünstigte Person
- männlich, ist von einer Lebenserwartung von noch 21,34 Jahren auszugehen. Der Vervielfältiger, mit dem der Jahreswert der Rente zu multiplizieren ist, liegt bei 12,722.
- weiblich, beträgt die durchschnittliche Restlebenserwartung 25,03 Jahre. Hieraus ergibt sich ein Vervielfältiger von 13,791.
In Abhängigkeit von Alter und Geschlecht der begünstigten Person können sich so erhebliche Unterschiede bei der Bewertung der lebenslangen Nutzung oder Leistung ergeben. Es scheint auf den ersten Blick durchaus nachvollziehbar, dass Steuerpflichtige hier einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz in Art. 3 Abs. 1 GG vermuten.
Aber: Nach amtlichen Erhebungen ist wissenschaftlich belegt, dass Männer im Durchschnitt eine kürzere Lebenserwartung haben als Frauen - nur so kommt die Sterbetafel mit ihren Werten überhaupt zustande.
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, orientiert sich das Steuerrecht an den tatsächlichen Gegebenheiten, dem "natürlichen Lauf der Dinge". Kann auch dann noch von einer Ungleichbehandlung die Rede sein?
Sachverhalt im Streitfall: Übertragung von GmbH-Anteilen unter Nießbrauchsvorbehalt
Der Kläger und seine beiden Geschwister schlossen mit ihrem Vater 2014 einen notariell beurkundeten Vertrag zur vorweggenommenen Erbfolge. Gegenstand des Vertrags war die Übertragung von GmbH-Anteilen, konkret jeweils 23,33 %. In Summe hat der Vater damit 70 % seiner Anteile auf seine drei Kinder übertragen.
Ebenfalls Gegenstand des Vertrags war die Vereinbarung eines lebenslangen unentgeltlichen Nießbrauchs zugunsten des Vaters an den übertragenen Anteilen. In § 4 des notariellen Vertrags wurde vereinbart, dass der Nießbraucher während der Dauer des Nießbrauchs alle mit den übertragenen Geschäftsanteilen verbundenen Lasten, insbesondere fällig werdende Einlagen und Nachschüsse, zu tragen hat.
2021 setzte das Finanzamt Schenkungsteuer gegenüber dem Kläger (und seinen Geschwistern) fest. Vom Anteilswert brachte die Schenkungsteuerstelle der Behörde den nach § 14 Abs. 1 BewG ermittelten Wert des Nießbrauchs in Abzug, was die Bereicherung entsprechend verminderte.
Hierzu wurde der Anteilswert in Anwendung von § 16 BewG durch 18,6 dividiert und anschließend mit dem sich aus der Sterbetafel für den Vater ergebenden Vervielfältiger, hier 8,431, multipliziert. Die vom Kläger erhobene Sprungklage gegen den Schenkungsteuerbescheid hatte keinen Erfolg.
Revisionsverfahren: Benachteiligung durch Sterbetafel
Der Kläger brachte in seiner Revisionsbegründung vor, § 14 BewG enthalte einen "logischen Bruch", da nach Absatz 1 der Vorschrift der Vervielfältiger nach der statistischen Lebenserwartung bemessen werde, in Fällen jedoch, in denen sich das Sterberisiko innerhalb kurzer Zeit verwirkliche, nach Absatz 2 der Vorschrift der Kapitalwert nach der tatsächlichen Laufzeit zu bestimmen sei.
Wenn die Ermittlung des Kapitalwerts nach der statistischen Lebenserwartung erfolge, von vornherein aber nur solche Sterbefälle berücksichtigt würden, die nach einer bestimmten Mindestdauer eingetreten seien, sei der in den Tabellen nach § 14 Abs. 1 BewG ermittelte Wert mathematisch falsch.
Außerdem verstoße die Verwendung geschlechterdifferenzierender Sterbetafeln bei der Bewertung des Nießbrauchs gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 des GG, weil der Gesetzgeber im Rahmen des § 14 BewG nicht berechtigt sei, das Geschlecht bei der Anwendung der Sterbetafeln mit steuerlicher Wirkung zu berücksichtigen.
Entscheidung des BFH: Keine begründete Revision
Der BFH sah keine begründete Revision. Das Finanzamt habe dem Grund und der Höhe nach in zutreffender Weise Schenkungsteuer festgesetzt. Der Kapitalwert des Nießbrauchs sei ebenfalls zutreffend berechnet und, wie von § 10 Abs. 1 Satz 1 ErbStG gefordert, von der Bereicherung in Abzug gebracht worden.
Die Anwendung der geschlechtsabhängigen Vervielfältiger im Rahmen des § 14 Abs. 1 BewG stellten auch keinen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 GG dar.
1. Zutreffende Berechnung durch das Finanzamt
Die Übertragung der Geschäftsanteile auf den Kläger habe eine freigebige Zuwendung dargestellt, da sie nicht von einer Gegenleistung des Klägers abhängig gewesen, sondern unentgeltlich erfolgt sei.
Insbesondere seien nach § 4 des notariellen Vertrags während der Dauer des Nießbrauchs sämtliche mit den übertragenen Geschäftsanteilen verbundenen Lasten, die sonst auf die GmbH-Gesellschafter und damit auch auf den Kläger entfallen wären, abweichend von der gesetzlichen Lastenverteilung (weiterhin) vom Vater zu tragen gewesen.
Die Behörde habe den Kapitalwert des Klägers auch in zutreffender Weise berechnet. Im Hinblick darauf, dass die Übertragung der GmbH-Anteile auf den Kläger mit Wirkung zum Mai 2014 erfolgte, ergeben sich anzuwendende Vervielfältiger aus der am 02.10.2012 veröffentlichten Sterbetafel 2009/2011 des Statistischen Bundesamtes (vgl. § 14 Abs. 1 Satz 4 BewG i.V.m., BMF-Schreiben v. 26.10.2012, BStBl I 2012, 950).
Aus der danach für den 01.05.2014 maßgebenden Sterbetafel sei zur Ermittlung einer lebenslangen Nutzung für einen im Bewertungszeitpunkt 74-jährigen Mann im Hinblick auf dessen (voraussichtliche) Lebenserwartung von 11,21 Jahren der Vervielfältiger in Höhe von 8,431 heranzuziehen.
2. Kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz
Das Verfahren sei auch nicht zur Vorlage an das BVerfG auszusetzen (§ 74 FGO). Der BFH ist davon überzeugt, dass § 14 Abs. 1 BewG mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG vereinbar ist.
Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG darf niemand wegen seines Geschlechts benachteiligt oder bevorzugt werden. Die Vorschrift konkretisiert und verstärkt den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.
Das Geschlecht dürfe demnach grundsätzlich nicht als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden. An das Geschlecht anknüpfende differenzierende Regelungen seien mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG allerdings immer dann vereinbar, wenn und soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach entweder nur bei Männern oder nur bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich (vgl. z.B. BVerfG-Beschl. v. 14.04.2010 - 1 BvL 8/08, BVerfGE 126, 29; v. 10.07.2012 - 1 BvL 2/10, 1 BvL 3/10, 1 BvL 4/10, 1 BvL 3/11, BVerfGE 132, 72).
Nach diesen verfassungsrechtlichen Grundsätzen sei die durch § 14 Abs. 1 BewG vorgegebene Ermittlung des Kapitalwerts von lebenslänglichen Nutzungen und Leistungen nach unterschiedlichen Vervielfältigern für Männer und Frauen am Maßstab des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG zu messen:
- Die Regelung des § 14 Abs. 1 BewG, die unmittelbar an die sich aus den Sterbetafeln ergebende statistisch unterschiedliche Lebenserwartung von Männern und Frauen anknüpft, führe zwar im Grundsatz zu einer geschlechterbedingten Ungleichbehandlung von Männern und Frauen, die nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG nicht mit der Verfassung vereinbar wäre.
- Diese Ungleichbehandlung sei vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des BVerfG aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Denn sie diene in erster Linie einem legitimen Ziel mit Verfassungsrang, nämlich die Kapitalwerte lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer mit zutreffenden Werten zu erfassen und entsprechend dem Leistungsfähigkeitsgrundsatz der Besteuerung zugrunde zu legen.
- Um dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu genügen, muss die steuerliche Belastung bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer gleichmäßig erfolgen. Das setzt voraus, dass die Wirtschaftsgüter, die durch Erbschaft oder Schenkung übertragen werden, als Bemessungsgrundlage so bewertet werden, dass ihr tatsächlicher Wert und ihre realitätsgerechten Wertverhältnisse korrekt abgebildet werden. Denn die Steuer knüpft an den Vermögenszuwachs und die damit verbundene höhere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Erwerbers an.
Nach Auffassung des BFH ist die Nutzung geschlechtsspezifischer Sterbetafeln nicht nur ein geeignetes Mittel, um die Besteuerungsgrundlage i.S.d. Prinzips der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit korrekt zu ermitteln - sie ist sogar das am besten geeignete Mittel, um dieses Ziel zu erreichen.
Fazit
Die Entscheidung des BFH ist in sich logisch und nachvollziehbar
Er bestätigt in seinem Urteil, was in der Literatur bereits herrschende Meinung ist. Eine "echte" Ungleichbehandlung zwischen Männern und Frauen würde voraussetzen, dass sie auf Willkür oder zumindest nicht sachgerechten Typisierungen basiert.
Dies ist bei einer Orientierung der Vervielfältiger an der statistischen und damit wissenschaftlich belegten Lebenserwartung von Männern und Frauen allerdings gerade nicht der Fall.
Nico Flegel, Diplom-Finanzwirt (FH), MR. Steuer AG, Pirna