Tatsächliche Verständigung bindet nicht bei Wegfall der Geschäftsgrundlage

In dem aktuellen BFH-Urteil geht es um die Bindungswirkung einer tatsächlichen Verständigung. Das Institut der tatsächlichen Verständigung wird vor allem in der Betriebsprüfung bei schwierig aufzuklärenden Sachverhalten angewandt. Grundsätzlich führt die tatsächliche Verständigung zu einer unbedingten Bindungswirkung. Im vorliegenden Sachverhalt kommt der BFH allerdings zu dem Ergebnis, dass die Bindungswirkung auch Grenzen hat.

Ausgangssachverhalt

Die Kläger sind Eheleute, die im Streitjahr 2007 zur Einkommensteuer zusammen veranlagt wurden. Sowohl die Klägerin als auch der Kläger waren an einer GmbH beteiligt. Der Kläger war an der GmbH seit November 1990 mit 75 % beteiligt. Seit August 2002 betrug die Beteiligung 94 %. Die Klägerin war seit April 1995 zunächst zu 1 % beteiligt. Im August 2002 erhöhte sich die Beteiligung auf 6 %. Die GmbH betätigte sich im Bereich des An- und Verkaufs, der Verwaltung und der Vermittlung von Immobilien. Außerdem war sie als Bauträger tätig.

Die GmbH stellte im November 2002 ihren Geschäftsbetrieb ein. Kurz zuvor war ein dinglicher Arrest u.a. in das Vermögen der GmbH angeordnet worden. Im Februar 2003 wurde über das Vermögen der GmbH durch das zuständige Amtsgericht das Insolvenzverfahren eröffnet. Nach der Schlussverteilung im Jahr 2007 wurde das Verfahren im Mai 2008 eingestellt.

Den Verlust aus der Auflösung der GmbH machten die Kläger zunächst in der Einkommensteuererklärung für den Veranlagungszeitraum 2002 geltend. Das Finanzamt lehnte die Berücksichtigung des Verlusts ab. Zur Begründung führte es aus, dass es im Veranlagungszeitraum 2002 an der erforderlichen Auflösung i.S.d. § 17 Abs. 4 EStG fehle.

Gegen die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2003 bis 2008 legten die Kläger zunächst Einsprüche ein, da das Finanzamt den geltend gemachten Auflösungsverlust für diese Jahre ebenfalls unberücksichtigt gelassen hatte. Mit Schreiben vom 11.02.2009 nahm der vormalige Steuerberater der Kläger die Einsprüche gegen die geänderten Einkommensteuerbescheide 2002 bis 2006 zurück.

Untätigkeitsklage

Mit Schriftsatz vom 19.05.2010 erhoben die Prozessbevollmächtigten für die Kläger Untätigkeitsklage. Dies betraf die Einkommensteuer für den Veranlagungszeitraum 2004. Hilfsweise wurde auch wegen der Einkommensteuer für den Veranlagungszeitraum 2007 Klage erhoben. Sie begehrten hiermit die Berücksichtigung eines Auflösungsverlusts in Höhe von ca. 1 Mio. €. Der Betrag setzte sich im Wesentlichen aus dem Verlust der Stammeinlagen sowie nachträglichen Anschaffungskosten aus Bürgschaftsinanspruchnahmen und Darlehensverlusten zusammen.

Während des Klageverfahrens erging im Juni 2010 ein Änderungsbescheid für den Veranlagungszeitraum 2007. Darin berücksichtigte das Finanzamt erstmalig einen Auflösungsverlust. Es setzte daher die Einkommensteuer auf 0 € herab. Zugleich stellte es den verbleibenden Verlustvortrag zum 31.12. 2007 mit ca. 47.500 € fest. Dabei berücksichtigte es im Rahmen der Ermittlung des Auflösungsverlusts ausschließlich den Verlust des eingezahlten Stammkapitals unter Anwendung des Halbeinkünfteverfahrens. Hiergegen legten die Kläger Einspruch ein.

Im November 2010 erließ das Finanzamt einen weiteren geänderten Verlustfeststellungsbescheid, in dem es die von den Klägern erbrachten Stammeinlagen vollständig berücksichtigte. Es erhöhte dementsprechend den festgestellten Verlust auf 215.967 €. Im Übrigen wies es den Einspruch gegen den Verlustfeststellungsbescheid mit seiner Einspruchsentscheidung vom 25.11.2010 mit der Begründung zurück, dass eine Berücksichtigung der geltend gemachten Bürgschafts- und Darlehensverluste ausscheide.

Tatsächliche Verständigung

Im weiteren Verlauf des Klageverfahrens haben die Kläger und das Finanzamt auf Vorschlag des FG im Oktober 2013 eine tatsächliche Verständigung getroffen. Danach sollte "unter Berücksichtigung der Aktenlage, insbesondere auch des Vergleichs des Insolvenzverwalters mit dem Kläger, vorliegend von Tatsachen auszugehen sein, die zur Verlustentstehung im Jahr 2005 führen".

Im Gerichtstermin lagen die Akten für den Veranlagungszeitraum 2005 nicht vor. Der Berichterstatter des FG wies die Beteiligten darauf hin, dass hinsichtlich des im Wege der tatsächlichen Verständigung festgelegten Verlustentstehungsjahres 2005 keine Klage anhängig sei. Im Anschluss an die tatsächliche Verständigung erklärten die Beteiligten den Rechtsstreit gegen den Einkommensteuerbescheid 2007 in der Hauptsache für erledigt. Die Klage für das Jahr 2004 nahm der Kläger zurück.

Im Rahmen der Umsetzung der tatsächlichen Verständigung stellte das Finanzamt fest, dass der Vorberater der Kläger den Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 2005 bereits am 11.02.2009 zurückgenommen hatte und die Einkommensteuerfestsetzung des Veranlagungszeitraums 2005 daher nicht mehr änderbar war.

Vor diesem Hintergerund brachten die Kläger im Klageverfahren schließich vor, dass die tatsächliche Verständigung wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage aufzuheben und der Auflösungsverlust - ohne Bindung an die tatsächliche Verständigung - im Veranlagungszeitraum 2007 anzusetzen sei. Der tatsächlichen Verständigung habe die von allen Beteiligten getragene Annahme zugrunde gelegen, dass die Einkommensteuerfestsetzung für 2005 noch änderbar sei. Das FG ist dieser Argumentation nicht gefolgt und hat die Klage gegen den Bescheid 2007 abgewiesen.

Entscheidung des BFH

Der BFH kommt zu dem Ergebnis, dass die Revision begründet ist. Entgegen der Auffassung des FG ist nach den Grundsätzen über das Fehlen der Geschäftsgrundlage mit der Rücktrittserklärung der Kläger die Bindungswirkung der tatsächlichen Verständigung entfallen. Ob der Auflösungsverlust - wie von den Klägern vorgetragen - im Streitjahr entstanden ist, wird allerdings das FG ungeachtet der Ergebnisse der getroffenen Verständigung erneut zu beurteilen haben.

Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist in Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung eine tatsächliche Verständigung über die tatsächlichen Merkmale, die der Besteuerung zugrunde zu legen sind, grundsätzlich zulässig. Voraussetzung einer solchen tatsächlichen Verständigung ist u.a., dass

  • sie sich auf Sachverhaltsfragen und nicht auf Rechtsfragen bezieht,
  • die Sachverhaltsermittlung erschwert ist und
  • die tatsächliche Verständigung nicht zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führt.

Ob eine tatsächliche Verständigung zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führt, ist im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller objektiven Umstände des Einzelfalls zu beurteilen.

Bindungswirkung der tatsächlichen Verständigung

An eine zulässige und wirksam zustande gekommene tatsächliche Verständigung sind die Beteiligten nach dem Grundsatz von Treu und Glauben grundsätzlich gebunden, auch wenn die Verständigung nicht sämtliche schwer aufklärbaren Umstände des Besteuerungssachverhalts umfasst. Zur Bindungswirkung kommt es auch ohne ausdrückliche Vereinbarung der Beteiligten. Die Bindungswirkung der tatsächlichen Verständigung kann jedoch ausnahmsweise (nachträglich) entfallen, wenn einem der Beteiligten nach den Grundsätzen von dem Fehlen oder dem Wegfall der Geschäftsgrundlage ein Festhalten an dem Vereinbarten nicht (mehr) zuzumuten ist.

Entfall der Bindungswirkung

Der BFH lässt offen, ob hier die zivilrechtlichen Regelungen zur Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) anwendbar sind oder ob stattdessen § 60 VwVfG entsprechende Anwendung findet. Beide Vorschriften sind inhaltsgleich auszulegen. Ob hier die Geschäftsgrundlage entfallen ist, hängt davon ab, ob der gemeinsame Geschäftswille beider Parteien - zumindest stillschweigend auf die Änderbarkeit der Einkommensteuerfestsetzung 2005 gerichtet war. Der BFH kommt hier zu dem Ergebnis, dass unter den gegebenen Umständen die Voraussetzungen für den Wegfall der Geschäftsgrundlage vorliegen.

Die Fehleinschätzung hinsichtlich der verfahrensrechtlichen Umsetzbarkeit der Verständigung liegt nicht im alleinigen Risikobereich der Kläger. Dem steht nicht entgegen, dass den Klägern die von ihrem vormaligen Steuerberater erklärte Einspruchsrücknahme nach einer entsprechenden Akteneinsichtnahme hätte bekannt sein können. Zum einen besteht die Obliegenheit, sich vor Abschluss einer Verständigung über die mögliche Änderbarkeit eines betroffenen Einkommensteuerbescheids zu informieren, nicht nur für den Steuerpflichtigen, sondern gleichermaßen auch für das Finanzamt. Unterliegen zum anderen beide Parteien einer Fehleinschätzung hinsichtlich der rechtlichen Umsetzungsmöglichkeit der getroffenen Regelungen, ist diese nicht allein dem Verantwortungsbereich der hierdurch benachteiligten Partei zuzuweisen.

Fazit

Das FG wird im zweiten Rechtsgang prüfen müssen, in welchem Veranlagungszeitraum die Verluste zu berücksichtigen sind. Insoweit kommt es maßgeblich darauf an, dass der gemeine Wert des dem Gesellschafter zugeteilten oder zurückgezahlten Vermögens einerseits und die Liquidations- und (nachträglichen) Anschaffungskosten des Gesellschafters andererseits im Wesentlichen feststehen. Davon ist bei einer Auflösung der Gesellschaft infolge Eröffnung des Insolvenzverfahrens regelmäßig erst bei dessen Beendigung auszugehen.

Der BFH kommt hier im Übrigen zum absolut sachgerechten Ergebnis. Die Frage der verfahrensrechtlichen Umsetzung kann nicht zu Lasten nur einer Partei gehen. Das Verfahren zeigt aber auch, dass verfahrensrechtliche Probleme nicht zu unterschätzen sind.

Regierungsdirektor Peter Mann