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Verfahrensrecht -

Steuerbescheide: Welche Folgen hat ein Vorläufigkeitsvermerk?

Wie lange gilt ein Vorläufigkeitsvermerk? Welche Folgen hat ein abweichend formulierter Vermerk im Änderungsbescheid? Nach dem BFH gilt: Tritt der spätere Vermerk an die Stelle des Vermerks im Vorgängerbescheid, bestimmt die Regelung im Änderungsbescheid den Umfang der Vorläufigkeit neu - jedenfalls dann, wenn nicht erkennbar ist, dass der ursprüngliche Vermerk trotz Änderung wirksam bleiben soll.

Der Bundesfinanzhof (BFH) hat in einer aktuellen Entscheidung vom 16.06.2020 (VIII R 12/17) dazu Stellung genommen, wie weit ein Vorläufigkeitsvermerk im Änderungsbescheid reicht, wenn dieser im geänderten Bescheid anders formuliert war.

Sachverhalt im Besprechungsfall

Die Klägerin A machte in der Einkommensteuererklärung einen Verlust aus selbständiger Arbeit geltend. Das Finanzamt (FA) lehnte die Berücksichtigung dieses Verlusts bei der Einkommensteuerfestsetzung ab und erließ den Bescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.

In dem Änderungsbescheid legte das FA erstmals die Verluste der A aus selbständiger Arbeit der Steuerfestsetzung zugrunde und hob den Vorbehalt der Nachprüfung auf. Unter dem Punkt „Festsetzung“ führte das FA in diesem Bescheid aus: „Der Bescheid ist nach § 165 Abs. 1 Satz 1 und 2 AO teilweise vorläufig.“

In den Erläuterungen hieß es: „Der Bescheid ist vorläufig hinsichtlich der Einkünfte aus selbständiger Arbeit, weil z.Z. die Gewinnerzielungsabsicht nicht abschließend beurteilt werden kann. Der Bescheid ist im Hinblick auf anhängige Verfassungsbeschwerden bzw. andere gerichtliche Verfahren vorläufig hinsichtlich u.a. der beschränkten Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen (gem. § 10 Abs. 3 EStG).“

Aus den Erläuterungen ging nicht hervor, welcher der mitgeteilten Vorläufigkeitsgründe sich auf § 165 Abs. 1 Satz 1 AO und welcher sich auf § 165 Abs. 1 Satz 2 AO bezog.

Für die Folgejahre wurden die Einkünfte der A aus selbständiger Arbeit ohne Vorläufigkeitsvermerk unabhängig davon berücksichtigt, ob sie positiv oder negativ waren. Später änderte das FA die Festsetzung für das Streitjahr unter Bezugnahme auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO.

Unter „Festsetzung“ führte es aus: „Der Bescheid ist nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO geändert. Er ist nach § 165 Abs. 1 Satz 1 und 2 AO teilweise vorläufig.“

Der Erläuterungsteil enthielt nur die Hinweise zum Vorläufigkeitskatalog gem. § 165 Abs. 1 Satz 2 AO: „Die Festsetzung der Einkommensteuer ist im Hinblick auf bestimmte näher bezeichnete vor dem Bundesverfassungsgericht, dem Bundesfinanzhof bzw. dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anhängige Verfahren vorläufig.“

Der Bescheid enthielt in den Erläuterungen keinen Hinweis darauf, dass sich die Vorläufigkeit weiterhin auf die Einkünfte der A aus selbständiger Arbeit beziehen sollte.

Anschließend änderte das FA die Festsetzung für das Streitjahr erneut und erkannte die Verluste der A aus selbständiger Arbeit nicht mehr an. Hiergegen legte A Einspruch ein, der abgewiesen wurde. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt, der BFH folgte dem FG.

Änderungsmöglichkeit der Einkommensteuerbescheide

Gemäß § 165 Abs. 2 Satz 1 AO kann die Finanzbehörde Steuerfestsetzungen aufheben oder ändern, soweit sie die Steuer vorläufig festgesetzt hat. Demnach kommt eine vorläufige Steuerfestsetzung in Betracht, soweit ungewiss ist, ob die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer eingetreten sind. § 165 Abs. 1 Satz 3 AO verlangt in formeller Hinsicht für die Begründung des Vorläufigkeitsvermerks, dass dessen Umfang und Grund anzugeben sind.

Der Steuerpflichtige soll wissen, welche Umstände der endgültigen Festsetzung bzw. Feststellung entgegenstehen und hinsichtlich welcher als ungewiss betrachteten Tatsachen sich das FA eine weitere Überprüfung vorbehält. Diese Angaben zeigen auch die Grenzen für die endgültige Festsetzung bzw. Feststellung auf.

Sind die Formulierung des Vorläufigkeitsvermerks und die Erläuterungen in dem Bescheid nicht hinreichend klar, kann sich die Wirksamkeit des Vermerks auch durch Würdigung der Umstände des Einzelfalls ergeben. Zu prüfen ist dabei, ob der Umfang des Vorläufigkeitsvermerks aus Sicht eines objektiven Empfängers hinreichend erkennbar war.

Es ist entscheidend, wie der Adressat den materiellen Gehalt nach den ihm bekannten Umständen – seinem „objektiven Verständnishorizont“ – unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte. Dies gilt auch für die Änderung eines Vorläufigkeitsvermerks in einem Änderungsbescheid.

Da Umfang und Grund der Vorläufigkeit nach § 165 Abs. 1 Satz 3 AO anzugeben sind, muss der Steuerpflichtige den in einem Änderungsbescheid enthaltenen geänderten Vorläufigkeitsvermerk so verstehen, dass der Umfang der Vorläufigkeit gegenüber dem ursprünglichen Bescheid geändert und nun im Änderungsbescheid abschließend umschrieben worden ist.

Anwendung dieser Grundsätze im Besprechungsfall

Nach diesen Grundsätzen kommt keine Änderung des fraglichen Einkommensteuerbescheids in Bezug auf die negativen Einkünfte der A aus selbständiger Arbeit in Betracht, weil der Bescheid nicht vorläufig und somit nicht gem. § 165 AO änderbar war.

A konnte als Empfängerin aus dem Inhalt des Änderungsbescheids nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass die Festsetzung hinsichtlich ihrer negativen Einkünfte aus selbständiger Arbeit weiterhin vorläufig sein sollte.

Das FA hat im Änderungsbescheid den Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben und die Einkommensteuer hinsichtlich der Verluste der A aus selbständiger Arbeit vorläufig festgesetzt. Aus dem Bescheid, der eine Vorläufigkeit gem. § 165 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 AO anordnete, ging nicht hervor, welche der mitgeteilten vorläufigen Festsetzungen sich auf § 165 Abs. 1 Satz 1 AO und welche sich auf § 165 Abs. 1 Satz 2 AO bezog.

Der Änderungsbescheid erging zwar mit dem Hinweis, dass die Steuerfestsetzung gem. § 165 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 AO vorläufig war. Die negativen Einkünfte der A aus selbständiger Arbeit wurden vom Vorläufigkeitskatalog jedoch nicht mehr explizit erfasst.

Aus dem Inhalt des Änderungsbescheids konnte die A als Empfängerin des Bescheids folglich nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass die Festsetzung in Bezug auf ihre negativen Einkünfte aus selbständiger Arbeit weiterhin vorläufig sein sollte.

Für diese Sichtweise spricht nach dem Grundsatz von Treu und Glauben auch, dass die Festsetzungen für nachfolgende Veranlagungszeiträume, die teilweise vor der Änderung des fraglichen Bescheids ergingen, in Bezug auf die teils negativen und teils positiven Einkünfte der A aus selbständiger Arbeit keinen Vorläufigkeitsvermerk enthielten.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass das FA in dem Änderungsbescheid unter der Überschrift „Festsetzung“ die Vorschrift des § 165 Abs. 1 Satz 1 AO erneut zitiert hat.

Allein deswegen konnte die A nicht erkennen, dass die Vorläufigkeit in Bezug auf ihre negativen Einkünfte aus selbständiger Arbeit des Streitjahres weiter fortgelten sollte, da in den Erläuterungen des geänderten Bescheids keine ausdrückliche Zuordnung der Vorläufigkeitsgründe zum jeweiligen Satz des § 165 Abs. 1 AO enthalten war.

Der Steuerpflichtige muss jedoch wissen, welche Umstände der endgültigen Festsetzung bzw. Feststellung entgegenstehen und hinsichtlich welcher als ungewiss betrachteter Tatsachen gem. § 165 Abs. 1 Satz 1 oder Satz 2 AO sich das FA eine weitere Überprüfung vorbehält.

In diesem Zusammenhang grenzt der BFH seine Entscheidung ausdrücklich von dem Grundsatz ab. Der Vorläufigkeitsvermerk bleibt grundsätzlich bis zu seiner ausdrücklichen Aufhebung wirksam, auch wenn er in einem Änderungsbescheid nicht explizit wiederholt wird.

Eine nach diesen Grundsätzen unwirksame stillschweigende Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks liegt nicht vor, wenn das FA den Vorläufigkeitsvermerk in einem Änderungsbescheid inhaltlich abändert.

Denn ein Vorläufigkeitsvermerk, der in einem Änderungsbescheid enthalten ist und an die Stelle des bereits im Vorgängerbescheid enthaltenen Vorläufigkeitsvermerks tritt, bestimmt den Umfang der Vorläufigkeit neu und regelt abschließend, inwieweit die Steuer nunmehr vorläufig festgesetzt ist.

Im Besprechungsfall hat das FA dem Änderungsbescheid einen solchen inhaltlich geänderten Vorläufigkeitsvermerk beigefügt, da sich dieser nicht (mehr) auf die Einkünfte der A aus selbständiger Arbeit bezog. Für A war nach „objektivem Verständnishorizont“ nicht erkennbar, dass der ursprüngliche Vorläufigkeitsvermerk trotz der Änderung wirksam bleiben sollte.

Praxishinweis

Der BFH hat seine Grundsätze zum Vorläufigkeitsvermerk weiter konkretisiert: Wie bisher bleibt der Vorläufigkeitsvermerk grundsätzlich bis zu seiner ausdrücklichen Aufhebung wirksam, auch wenn er in einem Änderungsbescheid nicht ausdrücklich wiederholt wird. Eine unwirksame stillschweigende Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks liegt aber nicht vor, und dies ist neu, wenn das FA den Vorläufigkeitsvermerk in einem Änderungsbescheid inhaltlich abändert.

Diese Grundsätze sehen auf den ersten Blick eindeutig aus, es ist aber abzusehen, dass der BFH weitere Entscheidungen wird treffen müssen, bis feststeht, wann eine inhaltliche Änderung vorliegt.

BFH, Urt. v. 16.06.2020 - VIII R 12/17

Quelle: RA und StB Axel Scholz, FA für Steuerrecht und FA für Handels- und Gesellschaftsrecht