Wann hat die Finanzbehörde Kenntnis von den wesentlichen Umständen bei einer Steuerhinterziehung? Hiervon hängt die Festsetzungsfrist ab. Der BFH hat klargestellt, dass elektronische Daten, die nicht automatisch zur Akte gelangen, sondern nur auf Datenspeichern der Behörde zum Abruf bereitliegen, nicht schon deshalb als „bekannt“ gelten, weil sie mit der betreffenden Steuernummer verknüpft sind.
Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Urteil vom 14.05.2025 (VI R 14/22) entschieden, dass die Kenntnis des Finanzamts (FA) von für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen erst gegeben ist, wenn die Personen, die innerhalb der zuständigen Finanzbehörde organisationsmäßig für die Bearbeitung des Steuerfalls berufen sind, von den entsprechenden Daten tatsächlich wissen konnten.
Eine wirksame Selbstanzeige ist somit auch möglich, wenn dem FA elektronische Daten vorliegen, die nicht automatisch zur Papierakte oder zur elektronischen Akte gelangen, und der zuständige Bearbeiter somit noch keine Kenntnis von diesen hat.
Sachlage im Streitfall
Die Kläger sind ein Ehepaar. Die Einkünfte des Ehepaars bestanden bis zum Jahr 2008 lediglich aus den Einkünften des Klägers aus einer nichtselbständigen Arbeit, welche im Rahmen der Steuerklasse III abgerechnet wurden.
Das FA ging daher davon aus, dass die Kläger nicht dazu verpflichtet waren, eine Steuererklärung abzugeben.
Ab 2009 erzielte auch die Klägerin Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, welche im Wege der Steuerklasse V abgerechnet wurden - während der Kläger weiterhin nach Steuerklasse III besteuert wurde.
Hiermit wären die Kläger grundsätzlich dazu verpflichtet gewesen, eine Steuererklärung abzugeben. Weitere Einkünfte erzielten die Kläger nicht. Die Arbeitgeber übermittelten die elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen an das FA; diese waren dort unter der Steuernummer der Kläger abrufbar.
Einkommensteuererklärungen reichten die Kläger für 2009 und 2010 nicht ein. Das FA forderte sie hierzu auch nicht auf.
Erst 2018 stellte das FA anhand einer Prüfliste fest, dass wegen der Arbeitsaufnahme der Klägerin ab 2009 eine Pflichtveranlagung bestand, und erließ daher einen Schätzungsbescheid inkl. Festsetzung eines Verspätungszuschlags.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage gegen die Bescheide statt. Es verneinte den objektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO), da dem FA die für die Veranlagung erforderlichen Daten bereits elektronisch vorlagen und somit keine unvollständige Kenntnis über die Besteuerungsgrundlagen bestand.
Der BFH sah die Revision des FA als begründet an und hob die Entscheidung des FG auf.
Kenntnis der Finanzbehörde
Nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO ist eine Steuerfestsetzung unzulässig, sobald die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Für die Einkommensteuer beträgt diese Frist gem. § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO grundsätzlich vier Jahre.
Sie verlängert sich gem. § 169 Abs. 2 Satz 2 AO auf zehn Jahre, soweit eine Steuer vorsätzlich hinterzogen, und auf fünf Jahre, soweit sie leichtfertig verkürzt worden ist.
Der Beginn der Festsetzungsfrist richtet sich nach § 170 AO. Nach Absatz 1 dieser Vorschrift beginnt die Frist grundsätzlich mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entsteht.
Sofern eine Steuererklärung einzureichen ist, beginnt die Frist abweichend hiervon mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuererklärung abgegeben wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahrs nach dem Jahr der Steuerentstehung (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO).
Anwendung der Grundsätze auf den Streitfall
Im konkreten Fall ist insbesondere streitig, ob die verlängerte Festsetzungsfrist von zehn Jahren anwendbar ist. Hierfür ist von maßgeblicher Bedeutung, ob der Finanzbehörde die für die Steuerfestsetzung wesentlichen Tatsachen bekannt waren.
Davon ist auszugehen, wenn dem für den Erlass des Steuerbescheids zuständigen Bearbeiter diese Tatsachen bekannt waren. Unerheblich ist nach Auffassung des BFH, dass der Finanzbehörde aufgrund elektronischer Übermittlungen Daten vorlagen, die nicht dem Steuerfall direkt zugerechnet wurden.
Eine Kenntnis der Finanzbehörde ist daher erst anzunehmen, wenn die Daten in der Papierakte oder elektronischen Akte des einzelnen Steuerfalls enthalten sind.
Im Streitfall konnte somit von keiner Kenntnis des Bearbeiters ausgegangen werden. Nach diesen Grundsätzen wurde die Finanzbehörde von den Klägern über steuererhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen, weshalb die verlängerte Festsetzungsfrist von zehn Jahren anwendbar war und ein Schätzungsbescheid für das Jahr 2008 rückwirkend erlassen werden konnte.
Praxishinweis
Die Frage, wann von einer Kenntnis der Finanzbehörde auszugehen ist, ist nicht nur bei der Prüfung des Vorliegens einer Steuerhinterziehung für die Bemessung der Festsetzungsfrist maßgeblich, sondern auch bei der Einreichung einer strafbefreienden Selbstanzeige.
Diese ist nämlich nur wirksam, wenn die Finanzbehörde noch keine Kenntnis von der Steuerhinterziehung hatte. In dieser Hinsicht hatte der BFH bereits mehrfach entschieden, dass hiervon nur auszugehen ist, wenn der zuständige Bearbeiter von den nicht erklärten Einkünften Kenntnis gehabt haben konnte.
BFH, Urt. v. 14.05.2025 - VI R 14/22