Bewegte Lieferung bei innergemeinschaftlichen Reihengeschäften

Das umsatzsteuerliche Reihengeschäft ist immer wieder Gegenstand der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Viele Detailfragen sind noch nicht abschließend geklärt, erst allmählich findet darüber hinaus eine Aufarbeitung der in Teilen recht abstrakten Rechtsprechung des EuGH durch den BFH statt.

In zwei Urteilen hat der BFH sich jetzt zu Details der Festlegung der sog. bewegten Lieferung bei innergemeinschaftlichen Reihengeschäften geäußert (XI R 15/14 sowie XI R 30/13). Die Zuordnungskriterien des BFH weichen in Teilen von den Vorgaben der Finanzverwaltung ab. Außerdem gibt der BFH Hinweise für eine rechtssichere Abwicklung von Reihengeschäften im internationalen Kontext.

+++ AKTUELL +++ Mit der EU Mehrwertsteuerreform 2019 wird es neue, verbindliche Regeln für Reihengeschäfte geben. Erfahren Sie hier mehr in unserem Artikel „Neue Regeln bei Reihengeschäften.“

Rechtlicher Rahmen der Urteile

In beiden Urteilen geht es um die Festlegung der sog. bewegten Lieferung im innergemeinschaftlichen Reihengeschäft.

Nach § 3 Abs. 6 Satz 5, 6 UStG liegt ein Reihengeschäft vor, wenn mehrere Unternehmer über denselben Liefergegenstand Umsatzgeschäfte abschließen und dieser Gegenstand direkt vom ersten Unternehmer der Reihe zum letzten Unternehmer befördert wird.

Zu unterscheiden sind grundsätzlich Waren- und Rechnungsweg. Von allen Lieferungen im Reihengeschäft kann nur eine sog. bewegte Lieferung auch eine steuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferung bzw. eine steuerbefreite Ausfuhrlieferung sein.

Ort der bewegten Lieferung

Der Ort der bewegten Lieferung richtet sich gem. § 3 Abs. 6 Satz 1 UStG nach dem Beginn des Warenwegs. Die weiteren Lieferungen in der Reihe sind entweder vor- oder nachgeordnete Lieferungen nach §§ 3 Abs. 7 Satz 2, Nr. 1, 2 UStG.

Die Festlegung der bewegten Lieferung bereitet oftmals Schwierigkeiten. Die Finanzverwaltung hat in Abschn. 3.14 UStAE umfangreiche Anwendungshinweise gegeben. Als Kriterium wird insbesondere herangezogen, welcher Unternehmer in der Reihe die Beförderung oder Versendung veranlasst hat. Nach neuerer Rechtsprechung des EuGH spielt außerdem auch noch der Zeitpunkt der Verschaffung der Verfügungsmacht über den Liefergegenstand eine Rolle.

Die Urteilsfälle

Der erste Fall:

Im BFH-Urt. XI R 15/14 vom 25.02.2015 verkaufte eine deutsche GmbH (A) Maschinen an ein US-amerikanisches Unternehmen (B) mit fester Niederlassung in Portugal. B teilte A auf Anfrage lediglich die USt-IdNr. eines finnischen Unternehmens (C) mit, an die es die Maschinen weiterverkauft habe.Die Maschinen wurden von einer von B beauftragten Spedition bei A abgeholt und zu C nach Finnland verschifft. Die Lieferung wurde von A steuerfrei behandelt. Das Finanzamt behandelte die Lieferung jedoch als steuerpflichtig, woraufhin A Rechtsmittel einlegte.

Der Fall wurde schon vor dem EuGH behandelt (Urt. v. 27.09.2012 - Rs. C-587/10) und im zweiten Rechtsgang an den BFH zurückverwiesen (erster Rechtsgang: BFH, Urt. v. 28.05.2013 - XI R 11/09).

Der EuGH war der Ansicht, dass bei sog. Reihengeschäften regelmäßig die erste Lieferung (von A an B) umsatzsteuerfrei ist. Anders sei es jedoch, wenn B dem C bereits Verfügungsmacht an der Ware verschafft habe, bevor die Ware das Inland verlassen hat (s. EuGH, Urt. v. 27.09.2012 - Rs. C-587/10).

Im Streitfall war im Nachhinein jedoch nicht mehr zu ermitteln, wann B der C die Verfügungsmacht an den Waren verschafft hatte. Außerdem stellte sich die Frage, ob dem Steuerpflichtigen, obwohl die objektiven Voraussetzungen der Steuerbefreiung für eine innergemeinschaftliche Lieferung nicht vorlagen, gleichsam die Steuerbefreiung aufgrund der Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit zu gewähren ist.

Der zweite Fall:

Im zweiten BFH-Fall XI R 30/13 veräußerte die Klägerin (A) neue Pkws an einen Abnehmer in Großbritannien (B) und stellte eine Rechnung ohne Umsatzsteuer unter Angabe der USt-IdNr. an die britische Käuferin. A ging von einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung aus. B veräußerte die Pkws unter Ausweis britischer Mehrwertsteuer an einen in Großbritannien ansässigen Kunden (C). Weitere Ermittlungen ergaben darüber hinaus, dass C den Transport der Pkw beauftragt und gezahlt hatte.

Das Finanzamt ging im Rahmen einer Umsatzsteuernachschau im Jahr 2007 davon aus, dass die Lieferungen an B als steuerpflichtig zu behandeln sind. Hiergegen zog A vor das FG, welches seiner Klage stattgab. Das Finanzamt legte dann Revision vor dem BFH ein.

Kriterien der Verfügungsmacht

Nach der Rechtsprechung des EuGH (z.B. Urt. v. 06.04.2006 - Rs. C-245/04) ist für die Festlegung der bewegten Lieferung grundsätzlich auf alle Umstände des Einzelfalls abzustellen. Insbesondere stellt sich die Frage, ob die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über den Gegenstand zu verfügen, durch den Ersterwerber auf den Zweiterwerber stattfand, bevor die Ware das Inland verlassen hat. In diesem Fall wäre die bewegte Lieferung der Lieferung des ersten Abnehmers an den letzten Empfänger zuzuordnen.

Für den Fall XI R 15/14 bedeutete dies, dass die Beauftragung des Transports durch den mittleren Unternehmer also nicht unbedingt zur Zuordnung der bewegten Lieferung zu dessen Lieferung an den Abnehmer führen muss.

Die deutsche Finanzverwaltung geht zwar in Abschn. 3.14, Abs. 9 bis10 UStAE davon aus, dass bei einer Kosten- und Risikotragung für den Transport durch den mittleren Unternehmer im Ergebnis die bewegte Lieferung in der Reihe dann der Lieferung von diesem an seinen Abnehmer zuzuordnen ist (vgl. BFH, Urt. v. 28.05.2013 - XI R 11/09).

Problematisch war im Fall insbesondere auch der Zeitpunkt der Übertragung dieser Verfügungsmacht vom Zweiterwerber an den letzten Abnehmer. Dies konnte aufgrund fehlender Unterlagen nicht geklärt werden, weshalb eine Rückverweisung an die Vorinstanz stattfand.

Entgegen der Ansicht des FG spielen vom objektiven Geschehensablauf abweichende Absichtsbekundungen der Parteien lediglich im Rahmen der Prüfung des Vertrauensschutzes hinsichtlich der Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferung eine Rolle.

Soweit bei der Sachverhaltsaufklärung erhebliche Zweifel verbleiben sollten, ob die Verfügungsmacht am Liefergegenstand bereits im Inland übertragen wurde, ist die bewegte Lieferung im Zweifel der Lieferung des Ersterwerbers (also hier B) an den letzten Abnehmer (also C) zuzuordnen.

Indem der BFH, nach den Vorgaben des EuGH, die Kriterien der Verfügungsmacht und der Einzelfallprüfung in den Vordergrund rückt, stellt er sich in Teilen gegen das bisherige Prozedere der Finanzverwaltung nach Abschn. 3.14, Abs. 9 bis 10 UStAE.

Absicherungsmöglichkeit aufgezeigt

Dem BFH ist die Rechtsunsicherheit, die in der Abbildung von internationalen Reihengeschäften herrscht, durchaus bewusst. In seinem Urteil zeigte er eine Absicherungsmöglichkeit auf: Wenn sich hier A von B versichern lässt, dass B die Befugnis, über den Gegenstand der Lieferung wie ein Eigentümer zu verfügen, nicht auf einen Dritten übertragen wird, bevor der Gegenstand der Lieferung das Inland verlassen hat, so kann eine Zuordnung der bewegten Lieferung im Rahmen der Lieferung von A an B vorgenommen werden.

Nach Ansicht des BFH kommt in diesem Fall ein Vertrauensschutz für A nach § 6a Abs. 4 UStG in Betracht, sollte B gegen seine Versicherung verstoßen. Diese Vorgabe des BFH konkretisiert nun das Erfordernis der Abholberechtigung in dem unlängst in den UStAE eingefügten Abschn. 3.14 Abs. 10a.

Bewegte Lieferung im Abholfall

Besonderheit im Fall XI R 30/13 war, dass ein Abholfall des letzten Unternehmers in der Reihe vorlag.

Im Urteil vom 28.05.2013 hatte der BFH mit Verweis auf die EuGH-Rechtsprechung bereits entschieden, dass die Festlegung der bewegten Lieferung allein anhand der Transportverantwortlichkeit ohne weitere Einzelfallwürdigung nicht mit dem EU-Recht konform ist. In Abschn. 3.12 Abs. 8 Satz 2 UStAE legt die Finanzverwaltung jedoch fest, dass im Abholfall des letzten Unternehmers die bewegte Lieferung der Lieferung an diesen zuzuordnen ist.

BFH ist anderer Ansicht

Dem tritt der BFH nun entgegen. Die bisher aufgestellten Grundsätze bezüglich Verschaffung der Verfügungsmacht und Einzelfallprüfung, die zu Fällen einer Beauftragung des Transports durch den mittleren Unternehmer ergangen sind, können auch auf die hier vorliegende Konstellation angewendet werden. Auch hier ist deshalb zu ermitteln, wann und wo der Zweiterwerber die Verfügungsmacht erhalten hat.

Außerdem handelt es sich bei der Verschaffung der Verfügungsmacht und der Warenbewegung nach Ansicht des BFH um separate Tatbestandsmerkmale. Weder die Tatsache, dass der Zweiterwerber ggf. an der Beförderung beteiligt war, noch der Umstand, dass die Gegenstände nicht zur Adresse des Ersterwerbers befördert wurden, können es für sich genommen ausschließen, die Beförderung der ersten Lieferung zuzuordnen.

Der BFH stellte auch klar, dass für die innergemeinschaftliche Qualifizierung einer Lieferung nicht allein entscheidend ist, ob der letzte Abnehmer eines Reihengeschäfts die Beförderung oder Versendung des Gegenstands übernommen hat. Die insoweit gegenteiligen Aussagen der Finanzverwaltung in Abschn. 3.14 Abs. 8 Satz 2 UStAE sind mit der Rechtsprechung des EuGH nicht in vollem Umfang vereinbar.


Praxistipp:

Die hier besprochenen BFH-Urteile konkretisieren die Rechtsprechung des EuGH zum innergemeinschaftlichen Reihengeschäft und machen dessen abstrakte Äußerungen besser für die Praxis umsetzbar.

Das BFH-Urteil XI R 30/13 kann als eine Weiterentwicklung der Grundsätze aus dem Urteil vom 28.05.2013 angesehen werden. Zu begrüßen ist, dass der BFH den Steuerpflichtigen im Rahmen des Hinweises auf die Versicherung des Zweiterwerbers praktische Leitlinien gibt. Steuerpflichtige, die ihre internationalen Lieferstrukturen beim Reihengeschäft nach den bisherigen Vorgaben der Finanzverwaltung ausgerichtet haben, können zunächst weiter auf dieses Prozedere vertrauen, da die Finanzverwaltung noch an entsprechende Vorgaben des UStAE gebunden ist.

Für Zweifelsfälle kann die neue Rechtsprechung jedoch weiteren Argumentationsspielraum liefern. Es bleibt abzuwarten, wie die Finanzverwaltung die Urteile umsetzen wird. Denkbar ist, dass der Nachweis einer Abholberechtigung nach Abschn. 3.14 Abs. 10a UStAE auf eine Versicherung des Ersterwerbers hinsichtlich der Übertragung der Verfügungsbefugnis an den Zweitabnehmer ausgedehnt wird.


Autor: Thorsten Wagemann, Steuerberater, Dipl.-Wirtschaftsjurist (FH), erschienen in: Steuer-Telex, Ausgabe 16/2015

 

» Zurück zur Übersicht: Innergemeinschaftliche Lieferung